textologie
Jakob Moser

Dissertationsprojekt:

Daedala Lingua. Lukrez als Übersetzer
des Realen


Das Dissertationsprojekt konzentriert sich auf die Wechselwirkung von Dichtung, Rhetorik und Philosophie im didaktischen Epos des römischen Dichters und materialistischen Philosophen Lukrez. Dessen Lehrgedicht De rerum natura, „Über die Natur der Dinge“, ist eine Übersetzung von Epikurs Naturphilosophie. Diese wird als ein vielschichtiger sprachlicher, kultureller und poetischen Transfer betrachtet, der den philosophischen Diskurs Epikurs über Natur und Ethik verwandelt.

In Anlehnung an einen Ausdrucks des Dichters wird die lukrezische Sprache dabei als eine daedala lingua verstanden, d. h. als eine erfinderische und künstlerische Sprache. Lukrez selbst prägt diesen Ausdruck im Rahmen seiner materialistischen Sprachtheorie, in welcher er die Fähigkeit der Sprache analoge Bilder - simulacra - der Wirklichkeit zu erzeugen mit der Kreativität des mythischen Erfinders Dädalus assoziiert. Lukrez kann selbst als eine Art Dädalus verstanden werden, insofern er neue Wortgefüge „erfinden“ muss, um die griechische Philosophie ins Lateinische zu übertragen.

Eine Grundthese der Arbeit ist, dass die dädalische Sprache des Dichters nicht nur einen Transfer, sondern auch eine Transformation der epikureischen Philosophie bedeutet, in der sich das Verhältnis von Sprache und Realität wandelt. Um dies zu beweisen, werden drei zentrale Konzepte analysiert, mit denen Lukrez seine Epistemologie, Ontologie und Poetologie verknüpft. Diese sind die Metaphern/Begriffe der Spuren (vestigia), der analogen Bilder (simulacra) und der natürlichen Zeichen (signa). Es handelt sich dabei um drei Schlüsselbegriffe im Analogiedenken des Dichters, das einerseits in zeitgenössischen philosophischen und fachwissenschaftlichen Diskursen, andererseits in der Tradition der Epik verwurzelt ist.

Es gilt die Theorie der simulacra und des Zeichendeutens in ihrem spezifischen literarischen, rhetorischen und historischen Kontext zu untersuchen. Methodisch verbinden sich dabei philologische Textanalysen mit einer philosophische Fragestellung und einem breiteren  kulturwissenschaftlichen Ansatz, der die Übersetzung des Lukrez als eine römische Kulturtechnik begreift. Ausgehend von einer hermeneutischen und komparativen Lektüre des Lukrez, der Fragmente Epikurs und anderer antiker Autoren (v.a. Ennius, Philodemus, Varro und Cicero), zielt die Arbeit auf die philosophische Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Materie.

Dabei geht es erstens um die historische Rekonstruktion eines entscheidenden Moments der Latinisierung der griechischen Philosophie und zweitens um die epistemische Funktion des Poetischen in der Herstellung von Wissen. Der erste Aspekt verbindet Lukrez über seine Rezeptionsgeschichte auf engste Weise mit der Moderne, der zweite mit dem Wiederaufleben realistischer Positionen in den aktuellen Kulturwissenschaften. Die antike Frage nach der rerum natura verbindet sich somit doppelt mit der Frage nach dem „Realen in der Kultur der Moderne“.




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